«Ich wünsche mir einfach ein ganz normales Leben.»

Andreas, Zwischenraum

Ein steiniger Weg – Die Geschichte von Eric

Meine Homosexualität habe ich mir nicht ausgesucht. Wäre das möglich gewesen, hätte ich sicher eine andere Wahl getroffen. Mein Leben wäre dann vermutlich um einiges einfacher verlaufen. Heute bin ich jedoch damit versöhnt und führe ein befreites Leben. Aber bis dahin war es ein langer, steiniger Weg.

Schon als kleiner Junge spürte ich, dass ich anders war als andere Jungs. Später, als sich meine Altersgenossen für Mädchen zu interessieren begannen, fühlte ich mich zu Jungen hingezogen. Mit 15 Jahren wurde mir bitter bewusst, dass ich schwul bin. Anvertrauen konnte ich mich niemandem. Es hätte wohl auch niemand in meinem Umfeld Verständnis dafür aufgebracht. Ich sah nur den einen Weg, diese Veranlagung tief in mir zu verbergen. Kein Mensch sollte je davon erfahren. Doch mein inneres Geheimnis löste häufig depressive Phasen aus und nicht selten hatte ich Suizidgedanken. Der Sinn meines Lebens wurde für mich immer mehr zur zentralen Frage.

Mit 19 Jahren traf ich eine Lebensentscheidung für Jesus. Mein Leben änderte sich schlagartig. Es hatte endlich einen Sinn und eine Zielrichtung bekommen. Schnell wurde ich als sehr ernsthafter und eifriger Christ wahrgenommen und leitete schon bald eine Jugendgruppe. Über Homosexualität wurde in meiner Freikirche nie gesprochen. Schwule schien es einfach innerhalb des christlichen Umfeldes nicht zu geben. Doch mit der Zeit kamen meine „unerlaubten“ Gefühle und Sehnsüchte nach jungen Männern wieder zurück und wurden immer stärker. Da ein Ausleben nicht in Frage kam, flüchtete ich mich regelmässig in Phantasiewelten. 

Anstatt mich den Tatsachen zu stellen, ergriff ich die Flucht nach vorne und absolvierte eine dreijährige evangelikale Bibelschule. Doch auch die Bibelschule konnte an meiner Veranlagung nichts ändern. Schliesslich sah ich keinen anderen Ausweg mehr, als mich dem Gemeindepastor zu offenbaren und meine homosexuelle Veranlagung einzugestehen. Da er fest davon überzeugt war, dass Homosexualität „heilbar“ sei, begleitete er mich an eine Veranstaltung einer Ex-Gay-Bewegung aus den USA. Tränenüberströmt folgte ich dort dem Aufruf, mich von meiner Homosexualität „heilen“ zu lassen. Dies war der Beginn jahrelanger Heilungs- und Veränderungsbemühungen. In zahlreichen Befreiungsgebetssitzungen sagte ich mich von diesem und jenem los. Es wurde in der Vergangenheit geforscht, mögliche sexuelle Missbräuche gesucht. Es ging sogar soweit, dass mir „schwule Dämonen“ ausgetrieben wurden, mit denen ich angeblich belastet war. Immer wieder wurde mir gesagt, dass Gott mich völlig heilen und mich zu einer „gesunden“ Männlichkeit und zur Heterosexualität führen möchte. Ich müsse es nur wirklich wollen und im Glauben daran festhalten. Alles was dagegen sprach, sah ich als Anfechtungen an, welche es im geistlichen Kampf zu besiegen galt. Ich gab öffentlich Zeugnis von meiner „Heilung“. Doch mein innerer Zerriss wurde immer stärker und war zeitweise kaum auszuhalten. So vergingen die Jahre und Lebensträume platzten wie Seifenblasen. Beziehungen zu Frauen endeten nach kurzer Zeit meistens mit einem Scherbenhaufen.

Mit 42 Jahren war ich am Ende. Ich konnte so einfach nicht mehr weiterleben und stürzte in die grösste Glaubenskrise meines bisherigen Lebens. Alles, wovon  ich in den letzten 20 Jahren fest überzeugt war, fiel wie ein Kartenhaus zusammen. Ich musste der Tatsache ins Gesicht schauen, dass alle meine Veränderungs- und Heilungsbemühungen gescheitert waren. Ich haderte mit Gott, der all meine jahrelangen Bemühungen nach Heilung scheinbar ignorierte und war kurz davor, meinen Glauben über Bord zu werfen. Einen Weg zu finden, meinen Glauben und meine Homosexualität zusammenzubringen, schien mir eine Unmöglichkeit zu sein. Zu tief war in mir die These evangelikaler Bibelauslegung eingeprägt: „Homosexualität ist Gräuelsünde und Gott kann diese niemals gutheissen.“ Auch war ich davon überzeugt, dass es treue, verbindliche Beziehungen unter Homosexuellen gar nicht geben kann. Doch genau nach einer solchen Beziehung sehnte ich mich.

Nur langsam und zögernd begann ich, die Bibel aus einem anderen Blickwinkel heraus und in ihrem kulturellen Kontext zu lesen und zu verstehen. Nach und nach erkannte ich, dass Gott mir sehr wohl Heilung geschenkt hat, jedoch anders als ich sie mir vorstellte. Er nahm mir nicht meine Homosexualität, sondern er befreite mich dazu, sie anzunehmen und verantwortungsvoll damit zu leben. Ich brauchte nicht länger einer Idealvorstellung von Männlichkeit hinterher zu laufen, welche ich nie erreichen konnte. Ich war von Gott geliebt und angenommen, auch mit meiner Homosexualität.

Mir war bewusst, dass der Preis, welchen ich für diese neu gewonnene Überzeugung zu zahlen hatte, hoch sein würde. In meinem evangelikalen Umfeld konnte ich nicht auf viel Verständnis hoffen. Die wenigsten unter ihnen würden auch nur die Bereitschaft zeigen, darüber nachdenken zu wollen. „Du hast aufgehört zu kämpfen“, oder  „wir wollen eine Gemeinde sein für Menschen, die Veränderung suchen“ waren Sätze, die mir entgegen gebracht wurden. Als Mensch wollten sie mich immer noch lieben, aber meine Haltung meiner Homosexualität gegenüber war für sie sündhaft und fehlgeleitet. Sie hatten ihre Meinung gemacht und diese war von ihrem Bibelverständnis her unumstösslich. Ich wurde nicht aus der Gemeinde geworfen. Doch nur noch geduldet und von jeglicher aktiven Mitarbeit ausgeschlossen zu sein, wäre die Konsequenz gewesen, wenn ich geblieben wäre. So hatte die Gemeindeleitung auch nichts dagegen, dass ich freiwillig ging. Der Schmerz und die Enttäuschung darüber waren gross. Noch einige Zeit haderte ich mit evangelikalen Gemeinden und mit allem, was damit zu tun hatte. Doch ich kam auch nicht davon los. Ich sehnte mich nach wie vor nach christlicher Gemeinschaft, denn die liberalere Landeskirche war keine wirkliche Alternative für mich. 

In dieser Zeit fand ich auch den Weg in den „Zwischenraum“. Ich begegnete dort Christen, für die es eine Selbstverständlichkeit geworden war, fromm und nicht hetero zu sein. Dort lernte ich auch meinen jetzigen Lebenspartner kennen. Mit ihm bin ich nun schon seit mehreren Jahren glücklich unterwegs. Wir teilen Höhen und Tiefen des Lebens und unseren Glauben miteinander. Unsere Beziehung unterscheidet sich nicht wesentlich von der eines heterosexuellen Paares. Basis einer Beziehung ist nicht in erster Linie die Sexualität, sondern Liebe, Treue und Vertrauen. Ob homo- oder heterosexuell ist dabei sekundär. 

Ich erlebe zunehmend auch eine innere Versöhnung mit den evangelikalen Gemeinden meiner Vergangenheit. Für mich stellen sie nichts Bedrohliches mehr dar. Die alten Wunden heilen. Ich durfte erkennen, dass mich wesentlich mehr mit ihnen verbindet, als mich von ihnen trennt. Ich bin nach wie vor ein Teil von ihnen. Es ist nicht mehr der Schmerz und die Enttäuschung vorherrschend, sondern das Fundament auf dem wir stehen. Und dieses Fundament ist für mich heute nicht mehr eine wortwörtliche Auslegung der Bibel, sondern die Liebe und Annahme Gottes, welche uns in der Person Jesus Christus ganz nahe gekommen ist. Dafür bin ich unendlich dankbar.

empty